Es ist ein schmaler Grat zwischen aufrichtiger Spiritualität und Bollywood-Inszenierung
Also ich in meiner primitiven Menschlichkeit habe Empfindungen wie Wut, Schmerz, Enttäuschung, Eifersucht …
Immer noch.
Obwohl ich seit zwei Jahrzehnten meditiere, bete, heilige Schriften studiere, mich in Gelassenheit und Mitgefühl übe, bewusst diene, aus eigener Kraft und nach spirituellen Maßstäben meinen Lebensunterhalt verdiene und mich damit zufrieden gebe, … und so weiter.
Die weit überdurchschnittlich reflektierten Menschen, die zu mir kommen, um sich von ihren Angstmechanismen zu befreien und volle Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, haben diese „niederfrequenten“ Empfindungen auch.
Wir alle tragen den Schmerz des Scheiterns in uns. Scheitern einfach als „Ich habe nicht bekommen, was ich wollte“. Das ist sehr menschlich und unvermeidlich.
Und manchmal war das, was wir wollten, uns ganz außerordentlich wichtig.
Wir haben es aber nicht bekommen. Weil jemand anders es anders wollte. Allein diese Einsicht – dass wir gescheitert sind – ist viel.
Denn die meisten Menschen bleiben bereits im Scheitern hängen, fragen sich und alle Beteiligten immer wieder und auf unterschiedlichste Weise, ob sie „es“ nicht doch bekommen können oder finden Erklärungen, nach denen das Gegenüber „schuld“ ist oder – noch schädlicher – nach denen sie gar nicht wollten, was ihnen verwehrt blieb.
Wenn wir also da angekommen sind einzugestehen, dass wir einfach „nur“ nicht bekommen haben, was wir wollten, sind wir den ersten Schritt zum Frieden bereits gegangen.
Vergebung schafft Trennung
Wer dann jedoch mit großer Geste „Vergebung“ übt, hat das Vorausgegangene nicht wirklich verstanden. Denn:
1. Es gibt nichts zu vergeben (weil es keine Schuld gibt)
2. Der andere – der Mensch, der einbezogen wurde in das Wollen, und damit auch einbezogen ist in das Scheitern – hat mit unserem Scheitern gar nichts zu tun
3. Vergebung ist eine göttliche Macht. Sie enthebt den Sündiger aus der göttlichen Konsequenz. (Kannst Du das ?…)
Vergeben heißt doch, dass der eine schuldig ist und der andere das Recht und die Macht hat, diese Schuld zu tilgen.
Bitte denkt einmal an Situationen, in denen „Vergebung“ für Euch persönlich ein Thema war: Betrachtet Euren „Schuldiger“ (wie es in der Bibel heißt) und fragt Euch nochmal im stillen Kämmerlein, ob dieser Mensch tatsächlich Schuld trug.
Woher kam eure Schmerz ?
Woher genau kam der Schmerz ? Was hat Euch der um allen Konzeptmüll bereinigte Schmerz Euch gesagt ? … dass „der da“ SCHULDIG ist ? … sicher nicht !!!
Um eine Haltung des Vergebens einzunehmen, braucht es einen Schuldigen und einen, der drübersteht und den Schuldigen frei spricht.
Vergebung in dieser Weise schafft also Trennung, weil sie „inszeniert“ wird.
Vergebung fördert Selbstverleugnung
Ich erinnere mich an eine krasse Situation, als ich mit einer Gruppe Zeugin einer Vergewaltigung wurde, die wir unterbrachen. Als ich mich wenig später über die Vergewaltigte beugte – eine junge, noch nicht ganz ausgenüchterte Partygängerin in einem fremden Land – , sie beruhigte und ihr Liebe zufließen ließ und sie dann fragte: „Bist Du bereit, 100% Verantwortung für das zu übernehmen, was eben geschehen ist“ hielten alle Anwesenden – vor allem die Frauen – die Luft an. Die Frau und ich blickten uns tief in die Augen und in die Herzen und diese Frau antwortete mit ganzer Klarheit „Ja.“.
In diesem Moment wuchs ihre Energie, Licht kam zurück, sie atmete fest und tief – und war frei.
Solche Kraft ist wirklich selten und hat mich tief beeindruckt. Als ich bei einer späteren Begegnung diese Frage wiederholte, lächelte sie nur. Sie berichtete mir von ihren autoaggressiven Gedanken, die sie monatelang bis zu der Vergewaltigung gehabt hatte. Und die dann verschwunden waren.
Dieser Akt – statt in Ohnmacht zu gehen die eigene Macht anzuerkennen – bringt Erlösung und Wahrhaftigkeit.
Sicher wäre es angenehmer gewesen, wenn sie diese energetische Bewegung bereits im Angesicht des Vergewaltigers hätte durchführen können. Wir wissen nicht, wofür es so sein sollte.
Das Ergebnis ist zunächst jedoch, dass sie in IHRE Kraft geht – und nicht in eine vermeintliche Schuld des Gegenübers, die dann vergeben werden muss.
Was wir jedoch meistens tun, wenn wir Schmerz erfahren, läuft leider ganz anders ab:
Wir wollen.
Wir scheitern.
Wir wollen weiter.
Dieses Festhalten, dieses nicht akzeptieren des Scheiterns, erzeugt Widersacher und Täter.
Wir beginnen zu kämpfen, dringen auf den vermeintlichen Täter ein.
Wir scheitern.
Dann, irgendwann, ziehen wir uns zurück. Mittlerweile sind wir ganz schön erschöpft und viel Schmerz ist entstanden. Und ein Täterbild.
Aus Schmerz wird Hass, Verurteilung, Wiedergutmachungsforderung, Rache. Und der Hass ist es, der uns auffrisst, uns von innen her vergiftet. Dann ist es höchste Zeit, etwas zu unternehmen. Denn Hass macht krank. Uns selbst, nicht den vermeintlichen Täter.
Ich erinnere mich an Ines (Name geändert), die zur Auszeit kam. Ihr größter, aktueller Schmerz bestand darin, dass ein Vorgesetzter Mitarbeiter demütigte und fragwürdige Geschäfte vertuschte, die dem Unternehmen als Ganzes schadeten. Sie führte einen aussichtslosen Kampf und wurde zuletzt recht würdelos freigesetzt.
Die Bitterkeit und der Hass, die aus dieser Erfahrung entstanden, waren ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Ihre vitale Energie war aufgesogen von diesem maskierten Schmerz.
Ich bat sie, alles aufzuschreiben, was sie dem Täter vorwarf und auswendig zu lernen. Ich ging mit ihr an einen gesegneten Ort und bat einen alten Stein, ihre gestaute Energie aufzunehmen und zurückzuwerfen. Dann verband ich Ines die Augen, und forderte sie auf, den Täter vor ihrem inneren Auge erscheinen zu lassen. Ich reichte ihr einen Holzprügel und forderte sie auf, ihre Vorwürfe mit Schlägen auf den Stein vor sich zum Ausdruck zu bringen. Ich ließ sie schlagen bis zur Karthasis. Bis der eigene Hass, all die Verurteilung und Zuweisung durch sich selbst zerschlagen waren. Und dann lag der Schmerz frei. Dieser Schmerz, der monate- wenn nicht jahrelang unter ihrem Hass verborgen war, hatte allerdings eine ganz andere Nachricht, als der Hass, der vorher nach Vergeltung geschrien hatte. Dieser Schmerz sagte ihr, dass das Umfeld, in dem sie sich mit aller Kraft hatte halten wollen, so fremd war, so gegen all ihre Bedürfnisse und Werte verstieß. Dass die Kälte, die Berechnung, die Bosheit, die ihr dort begegneten, unerträglich waren und ihre Seele auffraßen.
DAS ist die wahre Nachricht der Seele.
Schmerz sagt uns, dass wir uns in etwas aufhalten, das uns nicht gemäß ist.
Die „modern-esoterische“ Aufforderung, zu integrieren, durchlässig zu werden, Wiederstand aufzugeben ist daher in sich paradox – oder doch zumindest unvollständig:
Wenn meine Seele eben (noch) nicht in der Lage ist, alles aufzunehmen, alles zu partizipieren, was „da draußen“ geschieht, dann ist DAS die Wahrheit.
Und nicht irgendein spirituelles Konstrukt, das uns auffordert „durch die Schmerzen zu gehen“, die „Spiegelung“ zu durchschauen, und so weiter und so fort.
Solch unverdaute, spirituelle Weisheit wird dann zum Katalysator für die totale Selbstverleugnung und führt uns in Lebenskonstrukte, denen wir weder gewachsen sind noch, die uns ermöglichen zu wachsen.
Wenn wir in diesen Situationen aus dem Hass in die Vergebung gehen, kreieren wir Lebenslügen.
Denn ohne Selbstliebe – ohne zu erkennen und anzunehmen, dass unsere Seele auf einem bestimmten Reifegrad ist und nur ein begrenztes Maß an Durchlässigkeit und Integration bewältigen kann – haben wir keine Chance auf lebendigen Frieden.
Wenn Du Jesus spielst, wirst Du Dich nie verstehen
Unser Schmerz hat also seine Berechtigung. Und diese Berechtigung bezieht er aus unserer Seele.
Keine Frage, dass unser aller Seele nach Befreiung strebt, nach einem Zustand bedingungsloser Liebe. Doch das Streben allein heißt noch lange nicht, dass wir schon dort wären. Wenn wir unsere eigenen Empfindungen und Bedürfnisse, die in bewusst empfundenen Schmerz sichtbar werden, zur Seite schieben, weil wir es nicht schaffen, den Schmerz zu transformieren und uns selbst vom entstehenden Hass erlösen wollen, kommt die Idee der Vergebung.
Ein guter „Trick“ unseres wollenden Geistes, der nicht bekam, was er wollte, doch noch eine Hintertür zu finden: Kein Bruch, kein Hass, kein „NEIN !!!“ – sondern der Schulterschluss mit dem „Täter“. Das gibt ein bisschen Würde zurück, die doch verloren schien im Scheitern.
So wird der Vergebungsakt zur reinen Farce – selbst wenn man die Sache mit dem künstlich „Schuldigen“ und der notwendigen Selbstüberhöhung außer Acht lässt.
Statt anzuerkennen, dass es eine Grenze gibt. Eine Grenze dessen, was unsere Seele ertragen kann. Jetzt. Einen Schmerzpunkt, der in bestimmten Situationen, durch bestimmte Personen überstrapaziert wird. Einen Punkt, an dem sich das hassende Schattenteil unseres Gegenübers immer wieder festsaugt.
… ich könnte mir gut vorstellen, dass wir einander auf Seelenebene sehr gut verstehen. Und dass diese wechselseitig zugefügten Schmerzen letztlich dazu angetan sind, uns an uns selbst, unsere emotionale und spirituelle Kapazität – und Grenze – zu erinnern. Doch das ist schon wieder Theorie.
Erlebbar, unmittelbar wahr ist der Schmerz.
Und – falls wir zu lange festgehalten haben – der Hass, der Widerstand, der Groll auf etwas „da draußen“.
In meinen Augen (und meinem Herzen) ist es ein Imperativ, hier anzuhalten.
Den Schmerz zu beenden. Aus Selbstliebe. Mindestens.
Und das geht eben nur mit einem klaren „NEIN !“
Ein „nein“ das eigenständig ist, ein „nein“, das das Spielfeld des anderen verlässt und sich zu sich begibt. Kein Jesus. Kein Vergeben. Keine Inszenierung: Einfach nur ehrlich sein: Ich habe nicht bekommen, was ich wollte. Das tut weh. Ich brauche nicht mehr davon.
Bei sich ankommen, das Feld des Anderen lassen ist schon überdurchschnittlich
Die Hinwendung zu unseren Schmerzen und zu unerfüllten Bedürfnissen ebnet uns den Weg zu unseren tiefsten Ängsten. Angst ist die Abwesenheit von Liebe. Liebe ist die Voraussetzung für Integration.
Es ist unmöglich, einem anderen Verletzungen zu vergeben ohne zu begreifen, was eigentlich verletzt wurde und ohne mit der nötigen Selbstliebe ausgestattet zu sein, mich selbst, so wie ich bin, erst einmal anzunehmen. Ernst zu nehmen. Wahr zu nehmen. Mir zunächst einmal zuzugestehen, dass ich – unvollkommener Weise – Ängste habe, die größer sind als meine Liebe.
Durch diese Hinwendung zu meinem inneren Status quo erübrigen sich alle Aktivitäten zum Gegenüber: Weder Urteil noch Rache, weder die Flucht in eine karmische Verquickung noch die (perverse) Hoffnung, auf eine übermenschliche Bestrafung.
Die Aufmerksamkeit wird auf den Ort gelenkt, der wachsen will: Meine Seele.
Ganz leicht ist dann zu erkennen, wie wir selbst leidvolle Situationen herbeigeführt haben. Und hieraus wächst die Kraft, Verantwortung zu übernehmen und Ausschau zu halten nach dem, was unserer Seele tatsächlich erlaubt, destruktive Muster zu durchbrechen, unserer Angst in angemessener Weise zu begegnen und sie mit Liebe aufzufüllen. Liebe, die uns keiner geben kann – Liebe, die entsteht, indem wir unsere Unvollkommenheit anerkennen und eigene Schritte zu unserer Heilung unternehmen.
Vergebung wäre die genau kontraproduktive Bewegung: Denn hier richten wir unsere Aufmerksamkeit nach außen, auf den anderen, den Auslöser des Schmerzes – aber nicht auf die Ursache des Schmerzes.
Bazar der Aufgestiegenen
Ich halte es für fatal, die ideelle Größenordnung – Vergebung, bedingungslose Liebe, Allverbundenheit – zum inhaltleeren Allgemeinplatz zu degradieren – zum Anspruch an jeden und jede – ganz gleich, wie tief die persönliche Erkenntnisarbeit bisher gediehen ist.
Statt einer zunehmenden kollektiven Entwicklung auf spiritueller und zwischenmenschlicher Ebene entstünden so neue Tabus und neue Dogmen, in denen es geradezu verwerflich ist, authentische Bedürfnisse zu äußern wie Rückzug, (emotionale) Sicherheit, spirituelle Führung.
Denn solche – letztlich spießbürgerlichen – Klischees führen keineswegs zu Frieden, Liebe und menschlicher Vervollkommnung sondern zum genauen Gegenteil: Zu Vorurteilen, unaufrichtigen Verbindungen und spiritueller Oberflächlichkeit.
Mögen meine Gedanken Wahrhaftigkeit und Transformation zutragen.
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